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Ein wenig Politik & Landeskunde gefällig?

Eine meiner noch zu erledigenden Aufgaben ist (war!) das Verfassen eines Aufsatzes für ein Seminar, das nie stattgefunden hat. Ja, das klingt verrückt, aber so musste ich halt nur das machen und nichts weiter… ich dachte, ich stelle den Aufsatz mal hier rein – nicht, weil er so toll ist (eh nur alles ne Zusammenfassung anderer Quellen), sondern weil ihr dann vielleicht auch noch was lernt 😉

Ethnische Minderheiten in China oder auch:
Ein Vielvölkerstaat – nur Probleme oder auch Chancen?

“Tibet ist kein Einzelfall.” Mit solchen und ähnlichen Sätzen wird die Weltaufmerksamkeit seit den Olympischen Spielen 2008 in Beijing auf das Vorhandensein von 55 ethnischen Minderheiten neben der dominierenden 汉-Ethnie (汉人) in China gelenkt. Dass der Ton dabei kritisch ist und sogleich die Schlagworte Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung mit anklingen lässt, passt ganz gut in das zumeist negativ gezeichnete Chinabild in deutschen bzw. westlichen Medien. Dieser Aufsatz soll dennoch weder eine Verteidigungsschrift für die Minderheitenpolitik Chinas, noch eine Kritik derer sein, sondern das Bild Chinas von einem Einheitsvolk etwas auflockern und den Fokus auf die Fremd- und Selbstwahrnehmung der nationalen Minderheiten legen. Insbesondere die beiden sogenannten “Krisenregionen” Tibet und Xinjiang werden dabei eine Rolle spielen.
Bei 56 Ethnien in China machen die汉人 als Mehrheit von ihnen ganze 91,6 Prozent der Bevölkerung aus2. Die restlichen 8,4 Prozent erscheinen beinahe nichtig, doch bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 1,3 Milliarden stellen sie eine Bevölkerung von 106 Millionen dar, womit sie jeden europäischen Nationalstaat übertreffen. Geografisch gesehen sind diese 106 Millionen Minderheitenangehörige auf 60 Prozent der Landfläche Chinas angesiedelt, vornehmlich die autonomen Grenzregionen, die zwar nur schlecht bis gar nicht besiedelt werden können, dennoch wichtige Bodenschätze beinhalten.
Die 55 ethnischen Minderheiten “können ethnisch, linguistisch, kulturell, historisch und vor allem in Bezug auf ihr Bewusstsein […] heterogener kaum sein” (Ludwig 2009:10), wie sie sich auch stark von den 汉人 unterscheiden. “Unter ihnen befinden sich indigene Völker aus dem laotisch-birmanischen Grenzgebiet, traditionell islamische Völker Zentralasiens oder ehemals mächtige Herrscher wie die Tibeter oder Mongolen” (Ludwig 2009:62). Nach welchen Kriterien eine Minderheit als solche anerkennt wird, ist weder eine Entscheidung nach Anzahl der Mitglieder, noch eine nach der Sprache. Wären linguistische Kriterien ausschlaggebend, dann müssten es mehr als 250 nationale Minderheiten geben (s. Ludwig 2009:62). Politisch motivierte Interessen schufen daher die nun anerkannten 55 Ethnien, dabei wurden neue Kategorien ausgedacht, andere zusammengefasst und wieder andere ganz außer Acht gelassen. Einige ethnische Gruppen sind zwar als Teil einer Nationalität anerkannt, nicht aber als eigenständige Nationalität. Andere ethnische Gruppen sind überhaupt (noch) nicht als Nationalität anerkannt. Ohne weiter auf den politischen Prozess zur Anerkennung der nationalen Minderheiten einzugehen, so herrschen für Angehörige dieser andere Rechte und Pflichten, als für die 汉人. Um nur einige zu nennen: Zweisprachiger Unterricht ist weit verbreitet und wird gefördert, Angehörige nationaler Minderheiten sind generell von der Ein-Kind-Politik ausgenommen und dürfen in jedem Fall mindestens zwei Kinder bekommen und Sonderregelung in den Hochschulen erleichtern den Zugang. Die autonomen Regionen erhielten 1984 erweiterte Rechte für die Wirtschaftsentwicklung, für den Schutz und die Verwaltung ihrer Ressourcen, im Außenhandel, Bildungswesen und im kulturellen Bereich. Diese Berücksichtigung und gesetzliche Aufwertung der Minoritäten seitens des chinesischen Staates war ein großer Schritt nach vorn, auch wenn von echter Autonomie nicht zu sprechen ist. Das eigentliche Problem ist dennoch weniger eine Frage von staatlicher Unabhängigkeit, sondern einer Frage von Anerkennung nationaler Zugehörigkeit, wodurch es gerade in zwei Provinzen immer wieder zu Unruhen kommt: Tibet und Xinjiang.
Der Begriff des 汉人 bezieht sich nur auf die ethnische Zugehörigkeit als Chinese und ist damit nicht gleichzusetzen mit dem Staatsbürger (中国人). Ein Großteil der Tibeter und Uiguren, der größten ethnischen Minderheit der Provinz Xinjiangs, und Mongolen fühlen sich nicht als 中国人 und auch nicht als nationalen Minderheit, sondern als eigenständige Völker. Sie nehmen den von der chinesischen Regierung seit den 1980ern durchgeführten industriellen und kulturellen Modernisierungsprozesse der autonomen Regionen als Eingriff in die ihnen angeblich zugeschriebene Anerkennung und ihr Recht auf Selbstbestimmung wahr, zudem lehnen sie den chinesischen Machtanspruch aus Beijing ab. Nach den neuen Gesetzen zur Anerkennung von ethnischen Minderheit wurde schnell klar, dass die ihnen gegebene Autonomie nicht das Recht mit einschließt, bei wichtigen Punkten wie der Ansiedlung von Industrieanlagen, der Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder Zuwanderungsregeln für 汉人 Mitspracherecht zu haben. Die Unruhen wachsen, Demonstrationen und Anschläge mehren sich. Die Beziehung zwischen der汉-Mehrheit und den genannten Minderheiten ist konfliktbeladen. Dabei sind die zentralen Konflikte sowohl politischer Natur, wie sie oben schon erklärt wurden und auf die fehlende Selbstbestimmung und politische Teilhabe zurückführen, als auch ökonomischer und soziokultureller: Die mit den Modernisierungs- und Industriealisierungsprozessen einhergehenden Probleme bestehen zum größten Teil aus zerstörerischer Ausbeutung der Umwelt, die Verschmutzung und hohe Krankheitszahlen der Bevölkerung zur Folge haben (s. BpB 2010). Gewinn am wirtschaftlichen Ertrag haben Angehörige ethnischer Minderheiten kaum, da sie auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Subventionsgelder, die insbesondere nach West-China fließen, werden für chinesische Interesse verwendet, auch wenn zum Beispiel die Infrastruktur seit Aufbau der Grenzgebiete deutlich verbessert wurde.
Zu den soziokulturellen Problemen zählt vor allem Misstrauen auf Seiten der ethnischen Minderheiten, die sich durch die Zuwanderung von汉人 und der damit einhergehenden “Aufweichung” (s. BpB 2010) ihrer Kultur bedroht fühlen. Dabei sind unterschiedliche Strömungen zu beobachten: Während die einen mit der Modernisierung der Gesellschaft mitgehen, zunehmend weniger ihre Sprach- und Schriftkultur pflegen und sich stattdessen der chinesischen Kultur anpassen (allein schon aufgrund der besseren Zukunftschancen), wenden sich andere Teile verstärkt ihrer ethnischen Identität zu, was mit Ablehnung oder auch Widerstand gegen die chinesische Regierung verbunden ist.
In Xinjiang haben Anfang der 1990er die Uiguren versucht, eine eigene Republik auszurufen, doch die Versuche scheiterten. Proteste wurden von der Zentralregierung als Terror eingestuft und niedergeschlagen, und an der Situation hat sich bis heute nicht viel geändert. Ähnlich sieht es mit Tibet aus; “Wie bei den Uiguren ist auch bei den Tibetern das ethnische Wir-Gefühl und das Bewusstsein, nicht “chinesisch” zu sein, stark ausgeprägt.” (BpB 2010). Probleme liegen auch in der Uneinigkeit von territorialen Ansprüchen. Chinas Anspruch auf die Grenzprovinzen basiert auf einem besonderen Territorialprinzip. “Danach erhebt China in Prinzip Anspruch auf alle Teile der ostasiatischen Landmasse, die jemals eine chinesische Dynastie, einschließlich der sogenannten Fremddynastien, beherrschte.” (Schmidt-Glintzer 1997:217). Auch hier spielt der Begriff der 中国人 bzw. 中国hinein, da 中国 “sowohl die jeweils regierenden Dynastien, als auch alle auf dem heutigen chinesischen Staatgebiet lebenden Grenzvölker” (Schmidt-Glintzer 1997:217) umfasst werden. Ihre Geschichte wird zu chinesischer Geschichte.
Um zuletzt noch einmal die besondere Problematik zwischen der chinesischen Zentralregierung und den beiden Provinzen Tibet und Xinjiang in den Fokus zu nehmen: Wie schon erwähnt, ist bei diesen beiden Völkern das Recht auf Selbstbestimmung und die Abgrenzung zu den Chinesen sehr stark ausgeprägt, vor allem das Recht auf freie Religionsausübung. Das muslimisch geprägte Xinjiang und das buddhistische Tibet, das sogar ein religiöses Oberhaupt besitzt, prallt unweigerlich mit der Autorität der Kommunistischen Partei zusammen, wenn es um die Ausübung religiöser Praktiken geht, die sich der Staatsgewalt entziehen. Chinas Regierung reagiert mit Überwachungen von Zeremonien, Einschränkung von Pilgerreisen und Verbot größerer Zusammenkünfte, um mögliche Unruhen und anti-parteiische Aktionen zu verhindern. Stark praktizierte und tief verwurzelter Glauben kann neben den Territorialbestimmungen somit als ein Grund angesehen werden, wieso gerade in diesen beiden Regionen so viel Unruhen und Widerstand aufflammen. Dabei ist die Selbstwahrnehmung der Ethnien immer stark mit den Reaktionen der chinesischen Regierung verbunden. Um ein Beispiel zu nennen: Sowohl die Tibeter, als auch die Uiguren, sind kein homogenes Volk und können noch nicht einmal als eine Ethnie bezeichnet werden, wenn es nach einigen sprachlichen und kulturellen Kriterien ginge. Im Gegensatz zu der von den Uiguren selbst wahrgenommene und oft vermittelte jahrtausendalte Geschichte ihres Volkes, ist die Entstehung ihrer Gruppe vergleichsweise jung. “Erst seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nämlich sind unter dieser Bezeichnung ursprünglich höchst heterogene Gruppen vereint, die folgende Merkmale gemeinsam haben: (1) seßhafte Lebensweise in einer der Oasen Xinjiangs, (2) Verwendung einer türkischen Sprache, (3) Bekenntnis zum Islam.” (Höllman 2007:32).
Daraus lässt sich schließen, dass mit stärkerem Eingriff seitens der chinesischen Regierung in das ökonomische, politische und soziokulturelle Leben diese Völker ein verstärktes Wir-Gefühl ausgelöst wird. ‘Wir’ sind Nicht-汉, und obwohl es Unterschiede in kulturgeschichtlicher Entwicklung gibt, so fallen diese angesichts der chinesischen ‘Bedrohung’ weg oder werden verneint, um sich gegenüber der 汉-Mehrheit zu beweisen oder zumindest den Anspruch auf Selbstbestimmung zu postulieren. Zwar wurde auch deutlich gemacht, dass die Bevölkerungszahl einer Ethnie nicht unbedingt für die chinesische Regierung ein ausschlaggebendes Kriterium für eine intensivere Auseinandersetzung mit dieser ist, doch mehr Stimmen sind immer schwerer zu überhören, als wenige. Eine stärkere Repression und fehlende Dialoge können nur größere Differenzen zur Folge haben, und auch das Bild des Einheitsstaates, wie es von dem chinesischen Staat nach außen versucht wird aufrechtzuerhalten, sollte überdacht werden. Nicht nur als Rücksicht auf das Vorhandensein so vieler ethnischer Minderheiten und Völker innerhalb des großen Landes, sondern gerade weil sich in kultureller-ethnischer Heterogenität immer das Potenzial erkenntnisbringenden Austauschs und produktiven Fortschritts birgt.
Literatur
  • Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), Heft Nr. 289/2006 “Volksrepublik China”, http://www.bpb.de/izpb/8882/ethnische-minderheiten?p=all, online am 18.06.13.
  • Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), APUZ Nr. 39/2010 “Zwischen kultureller Anpassung und Autonomie: Nationale Minderheiten in China”, http://www.bpb.de/apuz/32501/zwischen-kultureller-anpassung-und-autonomie-nationale-minderheiten-in-china?p=all, online am 19.06.2013.
  • Höllmann, Thomas O. (2007): Selbst- und Fremdwahrnehmung bei den ethnischen Minderheiten Chinas, in: Paideuma Bd.53, Jahrgang 2007, Frobenius-Gesellschaft e.V., S. 27-51.
  • Ludwig, Klemens (2009):Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. Verlag C.H. Beck, München.
  • Schmidt-Glintzer, Helwig (1997): China: Vielvölkerreich und Einheitsstaat. Von den Anfängen bis heute. Verlag C.H. Beck, München.

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